Ist Livestreaming ein Alleinstellungsmerkmal?

Dieser Beitrag erscheint im Rahmen der monatlichen Gugel-Kolumne für das Blog des eVideo Projekts der FHTW Berlin.

Seit Twitter die Echtzeit im Web etabliert hat, kann es nicht mehr schnell genug gehen, bis ein Inhalt im Internet ist. Eigentlich genau der richtige Trend um Livestreaming im Internet so richtig abheben zu lassen, sind es doch gerade die bewegten Bilder, die mit „live“ als erstes assoziiert werden. Kein anderes Medium hat diesen Kult so konsequent gepflegt und als Differenziator etabliert, wie das Fernsehen.

Ist es also nun soweit, dass die Echtzeit im Web mit der Echtzeit im Fernsehen zusammenwächst? Das Gegenteil ist der Fall. Während Twitter das Web erobert, will das live Videostreaming nicht so recht abheben.

twittervsjustin

Die verschiedenen Dienste wie Justin.TV, UStream, Livestream oder Stickam weisen im letzten Jahr eine mehr oder weniger gleichbleibende Besuchermenge auf, und das obwohl es mehr als genug Anlässe gab, die zu einer Initialzündung hätten führen können. Doch keinem der dedizierten Livestreaming-Anbieter haben diese Anlässe genutzt.

livestreaming

Woran liegt es, dass Twitter performt und Video-Livestreaming weiterhin in den Kinderschuhen steckt? Die Antwort darauf liegt im Verhältnis von Random-Access und Sequential-Access begründet. Während unsere Augen random-access-fähig sind, können unsere Ohren nur linear Informationen aufnehmen. Das ermöglicht es uns Tweets schnell zu filtern und viele Tweets von unterschiedlichsten Personen zusammen zu konsumieren um uns die relevanten Informationen herauszupicken.

Da die meisten Informationen bei Videos auf der Tonspur übermittelt werden funktioniert dieses Vorgehen bei Videos nicht. Wir können uns nicht auf zwei Videofeeds gleichzeitig konzentrieren und spätestens bei drei Videos wird es schlichtweg unmöglich. Wir müssen also die live Feeds linear betrachten in der Hoffnung, dass etwas passiert, das für uns relevant ist. Das bedeutet live Videofeeds ist nicht sonderlich effizient, wenn es darum geht schnell Informationen zu beschaffen, da zu viele Vorbedingungen erfüllt sein müssen:

  1. Muss der richtige Kanal ausgewählt sein (einer von mehreren Tausend).
  2. Muss der Kanal zur richtigen Zeit ausgewählt sein (früher oder später können wir auf die Information nicht mehr zugreifen).
  3. Muss der Ton eingeschalten sein, da die meisten Informationen im Ton versteckt sind.

Dies führt dazu, dass wir Twitter Feeds um ein vielfaches mehr Wert beimessen als einem beliebigen Videofeed, der gerade auf einer der Plattformen publiziert wird.

Einsatzgebiete von Live-Feeds

Das bedeutet natürlich nicht, dass Livestreams im Netz generell keinen Sinn ergeben. Damit ein live Feed auf Akzeptanz stößt, muss er zwei Bedingungen erfüllen: 1) dem User muss klar sein, was ihn im Feed erwartet. 2) der Inhalt des live Feeds muss zeitkritisch sein. Daraus ergeben sich klar abgrenzbare Events, für die sich das Anbieten eines Livestreams lohnt, was sonst noch so live gestreamed wird, ist schlichtweg mit Kanonen auf Spatzen geschossen. Nicht zuletzt, weil der live Charakter den Filter einer Nachbearbeitung umgeht, was den meisten Videos schlecht bekommt.

Livestreams sind immer dann angebracht, wenn ein Ereignis zu einem bestimmten Zeitpunkt viele Leute bewegt und zudem zu einem späteren Zeitpunkt enorm an Nachrichtenwert verliert. Das trifft vor allem auf zwei Arten von Events zu.

1) Events, die eine enorme Aufmerksamkeit erzeugen.
Von Sport über Amtseinführungen, Preisverleihungen bis hin zu Beerdigungen ergeben sich immer wieder solche Anlässe. Diese Events werden typischerweise auch im Fernsehen übertragen, der Livestream im Internet ist eine Ergänzung bzw. Ausweichmöglichkeit für User, die im Büro festsitzen, keinen Fernseher haben oder aus sonstigen Gründen das Broadcast-Signal nicht empfangen können.

2) Events, die nur eine sehr kleine Gruppe von Menschen interessant sind.
Hierunter fallen Events wie Aktionärsversammlungen, Konferenzen und Pressekonferenzen, die jeweils auch zeitkritisch sind. Es wäre extrem ineffizient diese Veranstaltungen über Broadcast zu verbreiten, das Internet hingegen ist wie geschaffen für die Übertragung dieser Art von Veranstaltungen.

Technische Probleme bei Live Feeds

Oftmals wird die fehlende Akzeptanz der Livestreaming-Dienste auch auf technologische Probleme zurückgeführt.

Die traurige Wahrheit ist: Das Web wurde nicht für Live-Video konstruiert und hat auch im Zeitalter omnipräsenter Breitbandanbindungen erhebliche Probleme mit der Verteilung von Bewegtbildern in Echtzeit. […] Was aber würde passieren, wenn live gesendete Ereignisse parallele Zugriffe in der Dimension eines Fußball-WM-Finales erreichen würden?

Dieses Argument trifft jedoch nicht den Kern. Dass einzelne Startups wie UStream (wie im zitierten Beitrag angemerkt) Probleme mit vielen parallelen Livestreams haben, ist nicht sonderlich verwunderlich. Nicht zuletzt ist die Übertragung von Livestreams über das Internet um einiges komplexer, als das Übertragen von on-demand Videos. Aber aus dem Versagen einzelner Startups auf ein Versagen des Internets zu schließen ist falsch. Dass Livestreams funktionieren, wenn man es richtig macht haben große Events der letzten Jahre gezeigt:

Es bleibt also die Frage: Was aber würde passieren, wenn live gesendete Ereignisse parallele Zugriffe in der Dimension eines Fußball-WM-Finales erreichen würden? Darauf gibt es eine ganz einfache Antwort. Im Moment gibt es kein Ereignis, das online parallele Zugriffe in dieser Dimension erzeugt. Die genannten globalen Großereignisse konnten mit den richtigen Partnern bewältigt werden, dass 2010 plötzlich weltweit alle das WM-Finale im Internet statt im Fernsehen sehen werden, ist nicht zu erwarten, doch wenn die Zeit für diesen Switch kommt, wird das Netz bereit sein. Genauso wie es im Moment bereit ist den momentan zu erwartenden Ansturm abzufangen. Probleme treten immer nur dann auf, wenn die Anbieter des Livestreams nicht vorher für die Anforderungen gerüstet sind. Dass Ustream in Deutschland eine schlechte Experience liefert ist nicht sonderlich verwunderlich, werden doch die meisten Server im Valley stehen.

Near Live Experience

Doch wie passt der Trend zum Echtzeit-Web und die mangelnde Akzeptanz von Video-Livestreaming zusammen? Die Antwort darauf liegt in einer near-live Experience. Es geht nicht darum den Moment live zu streamen sondern die Aufnahme möglichst schnell nach Fertigstellung und etwaiger Bearbeitung ins Netz zu bekommen. Schafft der User das Publizieren in vertretbarer Zeit, ist er gerne bereit auf Livestreaming zu verzichten. Nicht umsonst stiegen die mobilen Uploads zu Youtube nach der Einführung des iPhones 3GS um 400%. Der große Unterschied zwischen live und diesen „near-live“ Uploads ist, dass für near-live die gleichen Regeln gelten wie für alle anderen Videos auf den Videoplattformen auch. Die Seiten haben somit schon Filtermechanismen, die die Spreu vom Weizen trennen und auch der Zuschauer kann auf on-demand Funktionen, wie Spulen und Pause zurückgreifen, um nur die für ihn relevanten Blöcke des Videos zu betrachten. Und denkt man kurz darüber nach entspricht dies auch viel mehr Twitter als es ein Livestream tut.

Livestreaming an sich ist somit kein wirklicher Mehrwert für den User. Ein Service der nur auf live Videostreams setzt, wird keinen Erfolg haben – mit ein Grund dafür, dass bekannte Livestreaming-Dienste vermehrt auf das B2B-Geschäft setzen (z.B. Livestream oder Stickam(StreamAPI)). Ein reiner Livestreaming-Dienst wird sich auf Dauern nicht durchsetzen können.

Das online Publikum von großen live Events wird natürlich weiterhin wachsen, aber die Zuschauer erwarten die Streams zu den Events auf ihren bekannten Portalen (von Spiegel Online über MSN bis hin zu Bild.de), das heißt alle großen Nachrichtenportale werden in Zukunft vermehrt live Berichterstattung anbieten müssen.


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